Covid-19 und die weltweiten Konsequenzen brachten viele Neuheiten und Unsicherheiten – insbesondere wenn Menschen bereits von einer Atemwegserkrankung betroffen sind. Dr. Marc Nairz-Federspiel, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, beschreibt die drei großen seelischen Herausforderungen dieser Pandemiezeit – Angst, Isolation und Verlust von Halt und Struktur. Im Videointerview spricht er darüber, wie man am besten damit umgeht und was wir aus dieser Krise lernen können.
Welche sind die großen psychischen Herausforderungen der Covid-19-Pandemie?
Als Erstes ist es Angst – vor der unbekannten Krankheit, aber auch andere anzustecken und schlimmstenfalls vielleicht schuld an deren Tod zu sein. Dann kommt noch die Zukunftsangst als Resultat der Maßnahmen und des Jobverlusts dazu. Als zweite große Herausforderung sehe ich die Haltlosigkeit. Unser Leben hat sich durch Lockdowns, Abstandsregelungen und Ausgangsbeschränkungen dermaßen geändert, dass der normale Alltag nicht mehr gelebt werden kann. Struktur gibt aber Halt und Halt ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Wenn wir diese Struktur verlieren, kann das schwerwiegende psychische Beeinträchtigungen nach sich ziehen.
Der dritte wichtige Punkt ist die Isolation, da man zum Schutz der Menschen auf Distanz gehen musste und auch alte Menschen in Altersheimen allein gelassen werden mussten. Jedoch gibt es auch viele andere Gruppen, die sich isoliert und einsam gefühlt haben in dieser Zeit. Zum Beispiel Kinder und Jugendliche, die extrem viel dazu beigetragen haben, dass diese Pandemie so „reibungslos“ an uns vorüber gegangen ist. Sie haben sich sehr brav gehalten und haben sehr vieles in Kauf genommen, um andere zu schützen. Sie sind aber selber ein bisschen unter die Räder gekommen. Ihnen habe ihre „Peergroups“ (Gruppe Gleichaltriger, die befreundet sind) gefehlt, sie hatten keinen Austausch und damit konnte sich das Gefühl „wir schaffen das gemeinsam“ nicht gut entwickeln.
Die Isolation hat natürlich dazu geführt, dass die Krankheit eingedämmt wird, aber die zwischenmenschliche Komponente ist viel zu kurz gekommen. Die Menschen haben sich sehr zurückgezogen, weil sie sich selbst als potenziell gefährlich angesehen haben. Mir fällt dazu ein, was eine Freundin einmal zu mir gesagt hat und das auch sehr gut zu Menschen passt, die Probleme mit dem Atem bzw. dem Atemorgan haben: Früher verband sie mit dem Atem immer Leben und Lebendigkeit, jetzt, wo so viel von Aerosol-Ansteckung gesprochen wird, ist ins Bewusstsein gerückt, dass der eigene Atem todbringend sein kann. Diese Aussage hat mich sehr beeindruckt, natürlich auch in Zusammenhang mit dieser Isolation.
Wann sind Ängste normal, ab wann sind sie bedenklich?
Es ist eine absolute Ausnahmesituation für uns alle gewesen, eine Bedrohungssituation, die wir nicht einschätzen können. Angst ist eine ganz normale menschliche Reaktion, die im Grunde dazu dient, dass wir schützende Vorkehrungen treffen. Angst vor dieser Pandemie und vor diesem Virus zu haben, ist eine gesunde Reaktion. Ich denke, es ist gerechtfertigt, auch ein bisschen skeptisch, ängstlich und besorgt zu sein, wenn es um die Maßnahmen geht, die daraus resultieren.
Wir müssen jedoch zwischen Angst und Angsterkrankung unterscheiden. Die Angsterkrankung hat oft nichts mehr mit dem Auslöser zu tun und fühlt sich trotzdem wahnsinnig lebensbedrohlich an. Sehr häufige Vorzeichen dafür sind leichte depressive Verstimmungen, Ein- und Durchschlafstörungen, aber auch das Gefühl, untertags nicht mehr recht wach zu werden bzw. sehr viel Schlaf zu brauchen. Manche Menschen beschreiben Appetitveränderungen – entweder weniger Appetit, oder aber übersteigerten Kohlenhydratehunger –, eine leichte Reizbarkeit, Motivationslosigkeit, in den Alltag hineinzustarten, und auch Resignation. Als eines der ersten Symptome geht auch meistens die Libido zurück.
Gibt es Möglichkeiten, die eigene Belastbarkeit zu stärken?
Ja, die gibt es. Ich empfehle, täglichen Kontakt mit nahestehenden Personen zu pflegen und eine möglichst geregelte Tagesstruktur aufrechtzuerhalten. Dann können wir auch in Zeiten, in denen man sich durch die Pandemie eingeschränkt fühlt, „in uns selbst investieren“. Das heißt, wir tun ganz bewusst etwas Gutes für uns selbst, zum Beispiel Fremdsprachenkenntnisse auffrischen oder sich bewusst machen, wo Ängste gerechtfertigt sind und wo nicht. Zudem gibt es auch körperliche Methoden, die man anwenden kann, wie etwa Achtsamkeitstraining. Ganz wichtig ist auch, gut und ausreichend zu schlafen.
Was können wir aus dieser Krise lernen und mitnehmen?
Ich glaube, wir können viel lernen und auch aus den Erfahrungen viel schöpfen. Anfangs waren diese völlig neuen Maßnahmen, wie Maske tragen, Abstand halten, keine Hand mehr geben, so unvorstellbar und ungewöhnlich. Mittlerweile haben wir auch gelernt, dass nicht alles nur negativ ist. Das Resultat, das aus dieser Krise heraus wachsen kann, sind auch Erfahrungen, die wir sonst nicht gemacht hätten – zum Beispiel die Grippewelle, die ausgeblieben ist, weil wir Abstand gehalten und Maske getragen haben.
Das heißt, in erster Linie würde ich jedem den Tipp geben, die positiven Seiten dieser Zeit aufzulisten und zu überlegen, wie diese in Zukunft in den Alltag mitgenommen werden können. Ich glaube, wir werden überrascht sein, wie viel wir vielleicht auch an Lebens- oder an Kommunikationsqualität dazugewonnen haben. Ein Freund von mir konnte sechs Seiten Positives zu Papier bringen, jedoch nur eineinhalb Seiten Negatives.
Ein für mich ganz wichtiger Aspekt ist „Dankbarkeit üben“. Ich glaube es ist wichtig, sich am Ende des Tages klarzumachen: Wie war mein Tag? Was war das Gute daran? Wofür bin ich dankbar? Es gibt so viele Dinge, die vor der Pandemie so selbstverständlich waren und für die wir jetzt wieder dankbar sind – Freunde treffen, in Gesellschaft sein, Ausgehen, gemeinsam Kaffee trinken, Nähe zulassen. Ich denke, dieses Gefühl der Dankbarkeit – für das, was möglich ist oder was immer noch möglich war, auch während der Pandemie – hilft uns, nicht zu verzweifeln. Und schließlich gilt es, weil wir jetzt schon sehr lange mit der ganzen Sache beschäftigt sind, auch weiterhin einen langen Atem zu haben.